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Rockmusik in China

Der Lange Marsch in die weite Welt

Die Geschichte der chinesischen Rockmusik (yaogun yinyue) begann nach Auffassung ihrer Akteure und Chronisten im Sommer 1986, als der junge Musiker Cui Jian eher zufällig zwei Lieder auf einem Musikfestival vortrug, welches landesweit über das staatliche Fernsehen ausgestrahlt wurde. Gekleidet in der Uniform eines Soldaten der Volksbefreiungsarmee lieferte er einen provozierenden Auftritt und wurde zum enfant terrible. Das Ausland titulierte ihn später als den „Bob Dylan“, den „John Lennon“ und den „Bruce Springsteen“ Chinas, um sowohl das Gewicht seiner Kompositionen als auch seinen gesellschaftlichen und musikalischen Einfluss in China in einem dem Westen verständlichen Maßstab abzubilden. Nach zwei Jahrzehnten erschien das Konterfei Cui Jians im März 2006 auf der Titelseite der ersten chinesischen Ausgabe des amerikanischen Musikmagazins „Rolling Stone“. Die Auflage war schnell ausverkauft, nach drei Wochen war das Magazin verboten – es war nicht korrekt registriert. Heute erscheint es unter dem Namen einer staatlichen Musikzeitschrift, die seit 1987 in Shanghai vertrieben wird: „Audio & Visual World“ (Yinxiang shijie). Indessen stand Cui Jian wenige Wochen später am 8. April für ein Lied mit den Rolling Stones gemeinsam in Shanghai auf der Bühne. Ein symbolisches Ereignis, allerdings vor einem überwiegend ausländischen Publikum. Im Sommer desselben Jahres wurde das 20jährige Jubiläum chinesischer Rockmusik gefeiert und die Szene organisierte einige Konzerte. Soviel zur Geschichte.

Cui Jian ist bis heute der beste Verkaufsschlager chinesischer Rockmusik und er ist es auch, der das Bild vom Langen Marsch des Rock prägte, angelehnt an Deng Xiaopings „Neuen Langen Marsch“ der Reformpolitik, ausgedrückt auf Chinas erster und populärster Rockscheibe „Rock ’n’ Roll auf dem Neuen Langen Marsch“ (1989). Diese politischen Anspielungen an die Vergangenheit, an Ausdauer und Revolutionsgeist waren klug und seinerzeit notwendig. Außerdem war das Vokabular jedem verständlich und signalisierte, es würde nicht einfach werden! Cui Jian spricht aus, was das Volk denkt, hieß es. Seitdem haben sich viele Musiker und Musikerinnen auf diesen Pfad begeben, sammelten sich in der Hauptstadt Beijing, die ein Artikel aus dem Jahr 1993 gar als das „Yan’an der chinesischen Rockmusik“ bezeichnete. Kurze Zeit später sprach man vom „Hollywood des chinesischen Rock“, meinte aber wohl das Gleiche.

Inzwischen wird Rock zwar auch anderswo gespielt, z.B. in Kanton, Shanghai, Nanjing, Wuhan, Chengdu und Xi’an, doch wer etwas auf sich hält, mutig genug ist und Karriere machen will, der/die geht nach Beijing. Heute mag es dort mehrere hundert Bands geben, die nicht weniger musikalische Stilrichtungen vertreten als in anderen Großstädten der Welt. Diese Verbreitung, Aneignung und stilistische Vielfalt des Rock wäre in China ohne westliches Zutun, ohne Raubkopien und das Internet kaum in der Geschwindigkeit möglich gewesen. Aber obgleich die Szene heute selbständig, ausgereift, international und sehr professionell arbeitet, ist Rockmusik eine eher marginale Musikform und selbst den etwas berühmteren Stars bereitet es Mühe, von der Musik zu leben. Auch dies ist eine Folge der Raubkopien und dem Ausbleiben von Tantiemen, kann aber zusätzlich damit begründet werden, dass eine Stadt von der Größenordnung Beijings lediglich fünf bis zehn Auftrittsorte bietet. Die Ursachen hierfür liegen wiederum darin, dass dieser Aktivismus nur einen geringen Teil der Bevölkerung zu interessieren scheint und Rockmusik nach wie vor kaum in den staatlichen Medien präsent ist. Ebenso wie im Westen hat dies kommerzielle Gründe und ist nur noch bei extremen Spielarten eine Frage staatlicher Zensur.

Denn sieht man sich die CD-Cover und Texte an, scheint es kaum ein Thema zu geben, dass nicht besungen wird – Liebe, die Frustrationen des Alltags, Langeweile, Nihilismus und auch eine gute Portion Sex und Gewalt sind ohne viel Interpretationskraft erkennbar. An den Grundfesten des Staates rütteln die Inhalte (zumindest auf den CDs) nicht und auch die Kommunistische Partei Chinas hat erkannt, dass diese Subkultur keine Gefahr darstellt, sondern lediglich ein Ablassventil. Selbst in China verschwimmen in Zeiten der Postmoderne genrespezifische Grenzen, was zählt, ist der kommerzielle Erfolg. Das Spektrum ist weit, es reicht von „Rotem Jazz“ und patriotischem Pop bis „Beijing Punk“, Heavy Metall und Trash. Unbeeindruckt von dieser Vielfalt, verkauft sich die Liebes- und Popmusik aus Taiwan und Hongkong nach wie vor am besten, gefolgt von VR-chinesischen Varianten, ihren Konzerten und Gesangswettbewerben, derer viele im Fernsehen zu sehen sind. Ein gewisser Verkaufswert wird jedoch auch den sog. „underground“ und „independent“ CDs nicht abgesprochen, denn sie werden von staatlichen und privaten Schallplattenfirmen produziert und in einigen Regalmetern u.a. im staatlichen Foreign Language Bookstore in der Wangfujing, im Herzen Beijings, angeboten. Es gibt Ausnahmen, natürlich.

Die Revolution und der „Lange Marsch“ geraten bei alledem auch deshalb ins Hintertreffen, weil inzwischen eine vergleichsweise wohlbehütet aufgewachsene Generation junger Rockmusiker agiert, die in einer Dekade des wachsenden Wohlstands aufwuchs, Rockmusik als einen spezifischen Lebensstil pflegt, Spaß haben will (und hat) und selbstbewusst ihren gleichberechtigten Platz in der globalen Szene sucht und einfordert. Politik ist kein Thema mehr, aber warum sollte es das sein, zumal selbst der Westen hier wenig zu bieten hat. Gegenüber China wird jedoch an diesem Maßstab festgehalten. Interessant scheint nur, wer die exotischen Vorlieben des Auslands bedient, d.h. „Chinesisches“ mit Westlichem kombiniert, und andererseits, wer „unterdrückt“ und „verboten“ ist, den Geschmack des Subversiven verkörpert und Gelegenheit bietet, der chinesischen Zensur die westliche Freiheit vorzuführen. Alles andere wird als „westliche Kopie“ abgetan, gilt als unspektakulär und ist damit kommerziell wertlos.

Gegenwärtig ist ein erfreulicher Wandel in Sicht, denn Chinas Rockmusiker werden zunehmend tatsächlich auch aufgrund ihrer Musik nach Europa und in die USA eingeladen, aufgrund spezifischer stilistischer und künstlerischer Fertigkeiten und nicht nur, weil sie den Aufstand gegen ein rigides, unfreies Regime verkörpern. So positiv dieser Trend ist, und so sehr Chinas Musiker diese Anerkennung verdienen, muss der westliche Zuhörer wissen, dass er sich in einem aus musikalischen Vorlieben in China marginalisierten Musikfeld bewegt, welches nur wenig über das Musikangebot des Landes aussagt. Es bleibt die Frage, warum die „wirklichen“ Stars und PopkünstlerInnen Chinas, die dort vor einem Millionenpublikum spielen, kein Interesse im Ausland wecken.

Wichtig ist wohl immer noch das Paradigma der „Revolution“, welches heute allerdings dem des „Underground“ gewichen ist. Es gibt ihn in China, selbstverständlich, aber im Fall der Rockmusik ist die Verwendung des Begriffs inflationär und verkommt damit zur Werbestrategie, zu einem unreflektiert angenommenen Gütesiegel, national und international. Underground – eben „dixia“ – ist auch in China eine kommerzielle Kategorie, wenngleich eine bewusst anrüchige. Die Szene ist relativ übersichtlich und global orientiert, aber da es wohl kaum einen Künstler gibt, der nicht den (inter)nationalen „Übergrund“ anstrebt, ist der Underground nach zwanzig Jahren auch in China kaum mehr als eine romantisch verklärte Worthülse. Dass ist keineswegs tragisch, sondern Zeichen einer Normalität, denn im Westen war er es schon, als chinesische Rockmusik ihren Anfang nahm. So hat sich der Lange Marsch des chinesischen Rock entweder im Sande verlaufen oder ist tatsächlich an seinem Ziel angelangt, in China ebenso wie im Westen. Gekämpft wird natürlich auch weiterhin.

von Andreas Steen